Gesellschaftliche Marker politischer Katastrophen
Dieser Artikel analysiert die gesellschaftlichen Mechanismen hinter politischen Katastrophen, definiert als irreversible Zerstörung des Machtsystems und der sozialen Strukturen.
Autor: Andrej Safonow
20. Oktober 2025
GesellschaftLesezeit: ca. 32 Minuten
Abstract
Dieser Artikel analysiert die gesellschaftlichen Mechanismen hinter politischen Katastrophen, definiert als irreversible Zerstörung des Machtsystems und der sozialen Strukturen. 2015 erschienen, bot er zunächst Hintergrundinformationen zu den gesellschaftlichen Prozessen im Zuge der "farbigen Revolutionen" und zum "Arabischen Frühling"; mit der fortschreitenden Erosion der westlichen Gesellschaften wird er jedoch auch hier interessant.
Der zentrale Mechanismus einer politischen Katastrophe ist der Zusammenbruch der sozialen Machtgrundlagen - der Bereitschaft zur Unterordnung und Kooperation, die auf einer gemeinsamen Identität (z.B. nationaler Zugehörigkeit) zwischen Eliten und Bevölkerung beruht. Ein günstiger Nährboden hierfür ist eine Krise der Wachstumsgrenzen, die sich in stagnierender sozialer Mobilität und einer Fragmentierung der politischen Ziele äußert. Soziale Marker der heraufziehenden Katastrophe sind die kulturelle Spaltung, die Entfremdung der Eliten vom Volk („zwei Nationen") sowie die Politisierung ethnischer und religiöser Identitäten. Der kritische Wendepunkt ist erreicht, wenn sich innere Elitenkonflikte auf die breite Bevölkerung ausweiten und sich externe Akteure einmischen, was zur vollständigen Erosion der Machtgrundlagen führt.
Quelle
Сафонов А.Л., Орлов А.Д. Социальные маркеры политических катастроф // Социодинамика. 2015. № 12. С. 81-111. DOI: 10.7256/2409-7144.2015.12.1707 URL: https://nbpublish.com/library_read_article.php?id=17070
Übersetzung ins Deutsche durch: Roman Bannack
Die Quelle wurde veröffentlicht unter Creative-Commons-Lizenz CC BY_NC 4.0. Die vorliegende Übersetzung folgt dieser Vorgabe.
Einführung
Das Problem der gesellschaftlichen Mechanismen hinter historischen Krisen und Katastrophen ist tatsächlich eines der zentralen Probleme nicht nur der Sozialphilosophie, sondern auch der praktischen Politik, denn es hat direkt mit der Natur der Macht und der Natur ihrer Zerstörung zu tun.
Im Kontext der systemischen Krise des modernen Nationalstaates, die zunehmend katastrophale Formen annimmt, wird es immer wichtiger, die Erfahrungen früherer historischer Katastrophen zu verstehen, insbesondere die Erfahrungen von Bürgerkriegen, gesellschaftlicher Revolutionen und des territorialen Zerfalls von Staaten, beginnend mit der „Achsenzeit".
Unter einer politischen Katastrophe versteht man die unumkehrbare Zerstörung der Gesellschaft und ihrer grundlegenden sozialen Strukturen, vor allem die Zerstörung des Machtsystems, das die Gesellschaft sozial und territorial verbindet. Charakteristisch für politische Katastrophen ist ihre Vielschichtigkeit und Formenvielfalt: Sie können politische Revolutionen, Bürgerkriege, territorialen Separatismus sowie ethnische und religiöse Konflikte in unterschiedlichen Kombinationen umfassen.
Politische Krisen und soziale Revolutionen, insbesondere im Kontext der heutigen globalen Krise und des Phänomens der „Farbrevolutionen", werden von einer Vielzahl von Forschern untersucht.
In der russischen Geschichte der Sozialwissenschaften nimmt das von W.I. Lenin entwickelte Paradigma den führenden Platz ein, der den Begriff der revolutionären Situation definierte und die Kriterien für eine Krise der herrschenden Eliten als die „drei Zeichen einer revolutionären Situation" formulierte:
- die Unfähigkeit der Elite, „auf die alte Art zu regieren", d. h. das politische System in seiner bisherigen Form zu bewahren;
- der Unwille der Unterschicht, „auf die alte Art zu leben", d. h. ein Mangel an lebenswichtigen Ressourcen und die Unzufriedenheit der Massen mit der Oberschicht;
- eine erhöhte Aktivität der Massen, der „Eintritt der Massen auf die Arena der Geschichte" sowie die Präsenz einer „revolutionären Partei neuen Typs", „bewaffnet mit einer neuen revolutionären Theorie", d. h. das Vorhandensein einer realistischen und für die Massen attraktiven Alternative zum bestehenden Gesellschaftssystem.
Gleichzeitig beschränkte sich die marxistische Theorie revolutionärer Situationen auf die „Anzeichen" politischer Katastrophen und versäumte es, die gesellschaftlichen Mechanismen und Voraussetzungen einer revolutionären Situation zu erklären, vor allem die gesellschaftlichen Mechanismen politischer Macht, die fast ausschließlich auf Herrschafts- und Zwangsverhältnisse (Gewalt) reduziert wurden. Andererseits ignorierte die Revolutionstheorie andere Formen politischer Katastrophen und leugnete insbesondere deren Möglichkeit bei einem sozialistischen Gesellschaftsmodell. Das Ergebnis dieser unterentwickelten theoretischen Ansätze zur Theorie politischer Krisen war der nahezu gewaltlose Zusammenbruch sowohl des sozialistischen Staatenblocks als auch der Sowjetunion selbst.
Doch trotz der Vielfalt äußerer Formen, die die Gemeinsamkeit gesellschaftlicher Mechanismen verschleiern, ist der Gehalt einer politischen Katastrophe der Zusammenbruch der gesellschaftlichen Machtgrundlagen, die verstanden werden als die Bereitschaft und das Interesse der Glieder einer Gemeinschaft, sich den gesellschaftlichen Machtstrukturen zu unterwerfen und mit ihnen zu kooperieren.
Die Zerstörung des Machtsystems und in der Folge des Staates führt zur Zerstörung der Nation als einer in den Rahmen dieses Staates und seiner Institutionen integrierten gesellschaftlichen Gemeinschaft sowie des gesamten damit verbundenen Systems sozialer Rollen und Status, die die Struktur der Gesellschaft bilden.
Wie bereits früher gezeigt wurde, ist Macht immer mit einer bestimmten sozialen Gruppe verbunden, innerhalb derer diese Machtverhältnisse wirksam sind.
Das Wesen der Machtgrundlagen als „tiefe" Basis des Macht- und Unterordnungsverhältnisses ist ausreichend klar: Die Verweigerung einer Unterwerfung bedeutet zumindest den Ausschluss aus der Gruppe, eine Desozialisierung und einen Verzicht auf die Möglichkeiten, die mit der Teilhabe an einer bestimmten gesellschaftlichen Gruppe, in diesem Fall an einer bürgerlichen Nation, verbunden sind.
Mit anderen Worten: Der Preis für die Verweigerung einer Zusammenarbeit mit der Macht in einer gesellschaftlichen Gruppe (einschließlich einer Unterwerfung unter die Institutionen der „legitimen Gewalt" als Sonderfall) ist der Verlust der Möglichkeiten, die mit der Teilhabe an dieser Gruppe verbunden sind.
Dies bedeutet, dass die „Kosten der Desozialisierung" - das System der sozialen Möglichkeiten, der Vorteile und Perspektiven, die das Machtobjekt verliert, wenn es eine Unterwerfung verweigert und entsprechend die Gruppe verlässt - als objektive, quantitative Bewertung für die Stabilität der Machtgrundlagen, also der Grundlage von Machtverhältnissen in einer bestimmten Gruppe, dienen können. So erhalten wir in Form der Kosten der Desozialisierung (Kosten der Gehorsamsverweigerung) ein objektives Maß für die „Stärke" der Machtverhältnisse, das es uns ermöglicht, den Einfluss verschiedener sozialer Faktoren auf die Stabilität der Macht zu bewerten.
Die Krise der Machtverhältnisse im Nationalstaat manifestiert sich als Krise der nationalen bürgerlichen Identität der Eliten und der einfachen Bürger. Für eine Nation als Gemeinschaft, deren Entstehung und Reproduktion politischer Natur sind, bedeutet die Auflösung der nationalen Identität den Zerfall sowohl der Gruppe selbst als auch der mit ihr verbundenen Beziehungen, einschließlich der Machtverhältnisse.
Bekannt ist, dass die Grundlagen der Macht innerhalb einer Nation (beim instrumentalistischen Ansatz der Soziogenese) weitgehend durch den instrumentellen Wert der Teilhabe an dieser Nation bestimmt werden. Demnach ist die Akzeptanz des Machtsystems innerhalb einer Gruppe eine notwendige Voraussetzung für die Aufrechterhaltung und für die Erhöhung des sozialen Status. Unterwerfung und Kooperation sind der Preis für die Aufrechterhaltung und die Erhöhung des sozialen Status innerhalb einer Gruppe, der Preis für sozialen Aufstieg. Wenn die Aufrechterhaltung und die Erhöhung des Status innerhalb einer Gruppe ihren moralischen und instrumentellen Wert (objektiv oder subjektiv) verliert, erodieren dementsprechend die Grundlagen der Macht.
Auf der Bewusstseinsebene manifestiert sich die Gruppenzugehörigkeit vor allem in Form der Gruppenidentität, die integraler Bestandteil jenes Systems kultureller Muster und moralischer Werte ist, das als „nationale Idee" bekannt ist. Der Schlüsselbestandteil der nationalen Idee ist ein verallgemeinertes Bild weniger einer kollektiven Vergangenheit, als vielmehr einer attraktiven gemeinsamen Zukunft, einer sozialen Perspektive.
Der Kernpunkt einer politischen Katastrophe ist der scheinbar plötzliche Zusammenbruch der sozialen Grundlagen der politischen Macht, also der Mechanismen der Unterordnung und Zusammenarbeit mit der Macht, sowohl für die Macht als auch für die Gesellschaft. Infolgedessen bleiben die Machtstrukturen und herrschenden Eliten zwar organisatorisch und rechtlich noch eine Zeit lang bestehen, geraten aber in eine gesellschaftliche Isolation und verlieren die Kontrolle über die Gesellschaft, sie „hängen in der Luft".
Zu den Musterbeispielen systemischer politischer Katastrophen zählen die Französische Revolution, der Februar und der Oktober des Jahres 1917 in Russland sowie der Zusammenbruch der UdSSR. Ähnliche gesellschaftliche Mechanismen traten auch bei verschiedenen Arten gewaltfreier sozialer Revolutionen auf (z. B. bei der Blumenrevolution in Portugal, den Orangenen Revolutionen in Osteuropa, dem Arabischen Frühling usw.).
Darüber hinaus sind ähnliche Mechanismen politischer Katastrophen charakteristisch für alle Gesellschaften - angefangen bei den frühen Staaten - mit einer entwickelten politischen Sphäre, und lassen sich zumindest bis in die Antike zurückverfolgen.
Das vorgeschlagene Modell einer systemischen politischen Katastrophe unterscheidet sich von etablierten Vorstellungen gesellschaftlicher Revolutionen, indem es zwei Phasen politischer Katastrophen benennt. Das Ergebnis einer politischen Katastrophe im eigentlichen Sinne ist die Zerstörung der Machtgrundlagen und in der Folge die systemische Zerstörung der etablierten gesellschaftlichen Struktur sowie die Entstehung eines „institutionellen Vakuums".
Auf eine politische Katastrophe folgt eine Phase des sozialen Wandels - die Herausbildung einer neuen Gesellschaftsstruktur und neuer gesellschaftlicher Eliten inmitten intensiver Konfrontationen zwischen verschiedenen Akteuren (Bürgerkrieg), die in der Stabilisierung und Institutionalisierung der neuen Gesellschaftsstruktur und der dazugehörigen Gemeinschaft gipfelt. Dieses Zwei-Phasen-Modell erklärt das bekannte historische Phänomen der „Revolution, die ihre Kinder frisst", wobei die Anstifter der politischen Katastrophe selbst, die das „alte Regime" zerstört, typischerweise nicht zu den neuen Eliten gehören.
Es wird allgemein angenommen, dass Ausmaß und Tiefe einer politischen Katastrophe proportional zum Ausmaß der objektiven sozioökonomischen Voraussetzungen sind: Hungersnöte, Wirtschaftskrisen, militärische Niederlagen, soziale Unruhen usw.
In der Praxis ist ein solcher Zusammenhang nicht erkennbar, und für die Mechanismen, die zu politischen Krisen eines katastrophalen Ausmaßes führen, gibt es keine allgemein akzeptierte Erklärung. Während gewöhnliche politische Krisen auf die Elite beschränkt bleiben und durch einen Personalwechsel in den oberen Machtetagen gelöst werden, ohne das gesellschaftliche System als Ganzes zu beeinträchtigen, führen andere Krisen zu einer systemischen Katastrophe, zu einem völligen Zusammenbruch sowohl der vertikalen Machtstruktur als auch der gesamten gesellschaftlichen Struktur, nach dem Gesellschaft und Staat im besten Fall neu aufgebaut werden.
Der Inbegriff einer plötzlichen politischen und sozialen Katastrophe ist die Französische Revolution, in deren Verlauf die absolute Monarchie fiel, ohne, dass die Eliten auch nur den geringsten Widerstand leisteten. Dem Fall der Monarchie folgte eine langwierige Restauration der französischen Staatlichkeit - allerdings auf einer völlig neuen gesellschaftlichen und ideologischen Grundlage. In dieser Zeit wurden die herrschenden Eliten wiederholt ausgetauscht und die Machtstrukturen umgestaltet. Diese Phase endete mit dem Putsch des 18. Brumaire, der Napoleon an die Macht brachte, welcher schließlich eine neue politische Elite etablierte und eine neue Gesellschaftsstruktur festigte.
Der Zusammenbruch des Russischen Reiches war eine weitere politische Katastrophe einer stabilen, sich dynamisch entwickelnden Gesellschaft. Der Moment des völligen Zusammenbruchs der politischen Machtgrundlagen war die Abdankung Nikolaus II., provoziert von seinem inneren Kreis und den oberen Schichten der gesellschaftlichen Eliten. Der unmittelbare Vorwand für die Abdankung waren nicht etwa Volksaufstände, sondern die offene Gehorsamsverweigerung der Eliten und der oberen Machtebenen gegenüber dem Staatsoberhaupt, die zur Blockade des Zarenzuges am Bahnhof Dno führte. Besonders bezeichnend ist, dass weder die Zarenfamilie, noch die höchste Aristokratie, noch die Armeeführung (die sofort zerfiel) sich der Abdankung des Monarchen und Oberbefehlshabers widersetzten. Das bedeutet, dass die Machtgrundlagen zum Zeitpunkt der Abdankung bereits unwiderruflich zerfallen waren - selbst die oberen Ebenen der einst unerschütterlichen vertikalen Machtstruktur waren nicht bereit, sich dem „Herrn des russischen Landes" zu unterwerfen, mit ihm zu kooperieren oder gar sich für ihn zu opfern.
Die Ereignisse nach dem Februar 1917 stellten nichts anderes dar als einen von Grund auf neu gestalteten Aufbau der Gesellschaft, der vertikalen Machtstruktur, der Eliten und des gesamten Systems der Machtbeziehungen. Während dieses Prozesses wurde das Chaos der miteinander im Konflikt stehenden politischen Akteure in ein „rotes" und ein „weißes" Lager gruppiert. Trotz objektiver wirtschaftlicher und außenpolitischer Faktoren ging die „rote" Seite als Siegerin hervor, da sie in Bezug auf ihren gesellschaftlichen Status und ihre Lebensweise dem Großteil der Bevölkerung näher stand. Bezeichnenderweise vertrat keine der beiden Seiten des Bürgerkriegs die vorherige Macht, sondern lediglich deren Alternativen vom „Februar" und „Oktober": Befürworter der Restauration der Monarchie waren im Bürgerkrieg praktisch nicht vertreten. Insgesamt kam es nach dem faktischen Machtverlust und der Abdankung des Zaren bis zum Abschluss der Genese des Sowjetsystems Mitte der 1930er Jahre zu mehreren Veränderungen in den Eliten und im politischen System.
Der Zusammenbruch der UdSSR, der keineswegs auf Jelzins Putsch im August 1991 beschränkt werden kann, wurde zum Äquivalent des „Februars". Ein in militärischer und wirtschaftlicher Hinsicht konkurrenzloser Staat brach ohne aktiven Widerstand des ehemaligen „Sowjetvolkes" oder der politischen Eliten und Sicherheitskräfte zusammen.
Alle drei historischen Katastrophen sind gut dokumentiert und untersucht, sowohl auf wissenschaftlicher Ebene als auch in der Erzählliteratur, die oft von Politikern und Historikern ignorierte, weil subtile Phänomene des Massenbewusstseins einfängt.
In allen Fällen politischer Katastrophen gab es keine objektiven Voraussetzungen für den Zusammenbruch des politischen Systems. Gleichzeitig stellten die Zeitgenossen charakteristische Tendenzen und gesellschaftliche Merkmale der heraufziehenden gesellschaftlichen Katastrophen fest, die vor allem im Bereich des Massenbewusstseins angesiedelt waren.
Es liegt auf der Hand, dass der Reifungsprozess einer politischen Katastrophe, insbesondere einer Krise der Machtgrundlagen, die ja bestimmten gesellschaftlichen Mechanismen folgt, direkte oder indirekte gesellschaftliche Indikatoren haben muss, Marker, die es ermöglichen, den Grad der Instabilität des Machtsystems einzuschätzen, bevor die Katastrophe unumkehrbar in die letzte, offene Phase übergeht, wenn sich die Ereignisse schneller entfalten als die Reaktion der Prozessteilnehmer.
Latente Wachstumskrise als Hintergrund einer politischen Katastrophe
Es wurde wiederholt darauf hingewiesen, dass politische Katastrophen dann eintreten, wenn äußere Bedrohungen fehlen oder abnehmen. Darüber hinaus ereignen sich fatale Machtkrisen eines Staates oft auf dem Höhepunkt seines territorialen Wachstums und seiner militärischen Macht.
Somit war das Frankreich Ludwigs XVI. die führende westeuropäische Macht seiner Zeit.
Der Februar 1917 markierte die Endphase des Ersten Weltkriegs, in der das Russische Reich, obwohl es Verluste erlitten hatte, Teil der siegreichen Koalition war.
Auch der Zusammenbruch der UdSSR ereignete sich auf dem Höhepunkt ihrer militärischen, politischen und wirtschaftlichen Macht, allerdings im Kontext einer schweren ideologischen und politischen Krise, die von ihren eigenen politischen Eliten provoziert wurde.
Eine Systemkrise, die zu einer politischen Katastrophe führt, wird in vielerlei Hinsicht durch eine Krise der Grenzen des Wachstums ausgelöst, die damit einhergeht, dass der Staat an die Grenzen seines territorialen oder wirtschaftlichen Wachstums stößt, was fast immer in latenter Form geschieht. Der objektiv unvermeidliche Rückgang des Entwicklungstempos von Staat und Gesellschaft beim Erreichen der Grenzen des quantitativen und territorialen Wachstums verschärft unweigerlich den Wettbewerb um gesellschaftliche Ressourcen, vor allem um die Machtressourcen als „konzentriertes Spiegelbild der Wirtschaft", und verschafft politischen Akteuren und Gruppen einen monopolistischen Zugriff auf Finanz- und Materialströme sowie Ressourcen.
Somit führt die erfolgreiche Umsetzung der gesellschaftlichen Entwicklungsziele in der Phase des schnellen Wachstums zu einer Phase der Erschöpfung dieses Wachstumspotenzials und einer Abnahme der vertikalen Mobilität, was zu Wettbewerb, Fragmentierung und anderen gesellschaftlichen Prozessen unterschiedlicher Art führt.
Gleichzeitig führen externe Herausforderungen und Bedrohungen sowie Prozesse des territorialen und wirtschaftlichen Wachstums zu einer Konsolidierung der Gesellschaft sowohl vertikal (Machtsystem) als auch horizontal (Wettbewerb zwischen Elitegruppen).
Eine Form der latenten Krise der Wachstumsgrenzen, die einen günstigen sozialen Hintergrund für politische Katastrophen schafft, ist die Krise der vertikalen Mobilität, also eine zum Erliegen kommende soziale Mobilität. Auf individueller Ebene manifestiert sich eine Krise der vertikalen Mobilität, die durch die Erschöpfung des Entwicklungspotenzials verursacht wird, in eingeschränkten Möglichkeiten zum sozialen Aufstieg aufgrund eines Mangels an geeigneten sozialen Nischen. Der Mangel an individuellen sozialen Perspektiven führt trotz dynamischer wirtschaftlicher Entwicklung und technologischem Fortschritt zu einem Gefühl sozialer Stagnation, wie es am Vorabend des Zusammenbruchs der sowjetischen Gesellschaft der Fall war.
So war es vor allem die Krise der sozialen Mobilität, die die Voraussetzungen für die politische Katastrophe der sowjetischen Gesellschaft schuf. Während vor dem Krieg praktisch alle Hochschulabsolventen, die ihre Karriere in den Jahren einer besonders rasanten Entwicklung begonnen hatten, eine administrative oder akademische Laufbahn einschlugen, befanden sich die nachfolgenden Generationen der Absolventen in den 1970er und 1980er Jahren in einer sozialen Sackgasse, da die höheren gesellschaftlichen Positionen fest und anhaltend in den Händen der Vorgängergeneration waren. Dieses durchaus objektive Gefühl einer sozialen Sackgasse, einer „Stagnation" und „Gerontokratie", prägte weitgehend die dissidenten Stimmungen und später die massenhafte Beteiligung der sowjetischen Intelligenzija an der Zerstörung ihres eigenen Staates.
Eine ähnliche soziale Sackgasse entstand im „dritten Stand" (Tiers-État) im vorrevolutionären Frankreich.
Eine weitere Erscheinungsform der Krise der Wachstumsgrenzen, wenn die vorherige Entwicklungsstufe ausgeschöpft ist, ist eine Krise der Zielsetzung. Sie spiegelt objektiv wider, dass die Gesellschaft an einem Punkt der Entscheidung (κρίσις - altgriechisch „Entscheidung") hinsichtlich ihres zukünftigen Entwicklungswegs steht. Eine Krise der Zielsetzung führt zur Fragmentierung der politischen Eliten auf der Grundlage der möglichen Ziele einer gesellschaftlichen Entwicklung, also zu einer Krise der nationalen Ideale und der Staatsideologie.
Die Ursache der Krise der vertikalen Mobilität kann auch in der Verengung der wirtschaftlichen Basis der herrschenden Eliten liegen - insbesondere infolge der Privatisierung gesellschaftlicher Funktionen des Nationalstaats unter heutigen Bedingungen.
Gleichzeitig richtet sich die herrschende Elite nach innen und hemmt den sozialen Aufstieg konkurrierender Gruppen und der unteren Schichten. Dies provoziert und strukturiert Unzufriedenheit unter alternativen Machtgruppen und Untereliten. Durch die Stärkung ihres Machtmonopols und die Einschränkung der sozialen Mobilität provozieren die herrschenden Eliten das Wachstum einer radikalen Opposition, die den Gegeneliten als Unterstützungsquelle dient. Infolgedessen werden zuvor politisch inaktive soziale Schichten, deren soziale Mobilität innerhalb des bestehenden Gesellschaftsmodells eingeschränkt worden ist (im vorrevolutionären Russland die Rasnotschinzen1 usw.), in den politischen Kampf hineingezogen.
In ihrem Kampf um das Machtmonopol verstärken die herrschenden Eliten die administrative Regulierung und Kontrolle aller Lebensbereiche. Dies beinhaltet typischerweise direkte und indirekte Zensur, politische Unterdrückung, Wahlbetrug und Versuche der direkten ideologischen Kontrolle in Presse, Bildung und Kultur.
Die Gegeneliten und die Schichten der Unterelite wiederum verlieren Möglichkeiten und Hoffnungen auf eine Eingliederung in die Macht durch Kooperation und soziale Mobilität und reagieren auf die Stärkung des Machtmonopols mit verschiedenen Formen aktiver und passiver (nicht kooperativer) Konfrontation.
So führt die zunehmende Monopolisierung der Macht durch dominante Elitegruppen dazu, dass sich die soziale Peripherie der Nation und ein Teil der Eliten vom politischen Leben distanzieren (sich distanzieren, indem sie ihre führende Identität wechseln) und ihre gemeinsame Identifikation mit den herrschenden Eliten verlieren, was die Grundlagen der Macht zerstört.
Fragmentierung und soziale Isolation der Eliten und ihre Indikatoren
Eine notwendige Voraussetzung für eine politische Katastrophe ist die horizontale (Fragmentierung der Eliten) und vertikale (Entfremdung der Eliten von der sozialen Peripherie) Fragmentierung der Gesellschaft und der Eliten sowie die ethnokulturelle Fragmentierung, die die Voraussetzungen für den Übergang der Fragmentierung in Polarisierung und Spaltung der Gesellschaft schafft.
Zeitgenossen gesellschaftlicher Katastrophen weisen auf charakteristische Veränderungen im Massenbewusstsein und im kulturellen Bereich der Gesellschaft hin, die mit gesellschaftlicher Fragmentierung und der Erosion der Eliten einhergehen.
Zunächst ist eine Krise der nationalen Kultur zu beobachten, die sich in der Zunahme der Zahl und des Einflusses marginaler Subkulturen und der Unterbrechung der kulturellen Kontinuität manifestiert - insbesondere in der Entstehung neuer Strömungen in der Kunst, die sich aggressiv in der Ablehnung bisheriger kultureller Modelle positionieren.
Eine Identitätskrise, in der die gemeinsame Identifikation der herrschenden Elite und der sozialen Peripherie zerstört wird, führt auch zur Erosion und Zerstörung von Normen und Stereotypen des sozialen Verhaltens, die bestimmten sozialen Rollen und Status entsprechen.
Die Zunahme verschiedener sozialer Deviationen wird als moralischer Verfall, als „Verrottung" der Gesellschaft und als „Zerstörung moralischer Grundlagen" gewertet. Einerseits gibt es einen wachsenden Trend zum Hedonismus; andererseits wenden sich einige Eliten der Religion und dem Mystizismus zu, und die Zahl und der Einfluss nicht-traditioneller religiöser und parareligiöser Kulte, Ideologien und Subkulturen nehmen rapide zu, wodurch die Vorstellungen von sozialen und moralischen Normen dramatisch verschwimmen.
Dekadenz und Hedonismus in der Kunst sind klare Indikatoren für die rasch fortschreitende Zerstörung gesellschaftlicher Normen, die die Fragmentierung der Eliten verstärkt und ihre Entfremdung von der Bevölkerung weiter provoziert.
Der Zerfall und die Differenzierung grundlegender Bedeutungen und Werte wiederum provoziert eine existenzielle Krise, also den Verlust von Sinn und Zweck der Existenz der Gesellschaft und des Einzelnen.
Eine charakteristische Manifestation einer existenziellen Krise am Vorabend sozialer Katastrophen ist das Aufkommen massenhafter eschatologischer Erwartungen, obsessive Vorahnungen einer Katastrophe, des „Weltuntergangs". Letztendlich erfüllen sich diese Erwartungen in Form einer systemischen gesellschaftspolitischen Katastrophe, in deren Verlauf die Gesellschaft mit ihrem gesamten System sozialer Beziehungen und Rollen unwiderruflich zerstört wird. Tatsächlich hat das biblische „Weltuntergangsszenario" eindeutig eher den Charakter einer sozialen als einer Naturkatastrophe.
Die politische Komponente einer Existenzkrise ist eine Krise der Staatsideologie und der nationalen Idee, verstanden als ein System von Vorstellungen, die sich weniger auf eine gemeinsame Vergangenheit als vielmehr auf Ziele, Bedeutungen und Wege der gesellschaftlichen Entwicklung beziehen. Einerseits führt die soziokulturelle Fragmentierung zur Erosion der nationalen Idee, andererseits beginnt ein Prozess der ideologischen Entfremdung der unteren Gesellschaftsschichten von der von den Eliten (UdSSR, Russisches Reich) propagierten Ideologie.
Als Reaktion auf die Revision der kulturellen und wertorientierten Grundlagen des Lebens wenden sich einige Eliten orthodoxen und nicht-traditionellen Religionen und esoterischen Strömungen zu. Dies führt zu einer Fragmentierung der Gesellschaft und einer Schwächung der Identifikation des Einzelnen mit dem Staat, seiner Ideologie und seinem Machtsystem. Die Ausdifferenzierung der nationalen Kultur in Subkulturen zeigt sich besonders deutlich in Literatur und Kunst.
Die zunehmende soziale und kulturelle Differenzierung, die Verschiebung der Kultur der herrschenden Eliten hin zu Hedonismus und Individualismus stellt eine soziale Herausforderung für die untergeordneten Schichten der Gesellschaft dar und trägt zu ihrer Entfremdung von den Eliten bei.
Von der Vermögensabschichtung zur Identitätsumkehr
Ein allgemein anerkanntes Kennzeichen politischer Katastrophen ist die zunehmende soziale Abschichtung zwischen den Eliten und den unteren Schichten der Gesellschaft. Eine Vermögensschichtung ist jedoch nicht an sich gefährlich, sondern vielmehr aufgrund der entstehenden Unterschiede in Lebensstilen und Alltagsstrukturen zwischen den Eliten und der Gesamtbevölkerung. Unterschiede im Alltag untergraben die gemeinsame Identität einer sozialen Gemeinschaft und damit das System der Machtverhältnisse, dessen Funktionieren auf gemeinsamer Gruppenzugehörigkeit und Identität beruht.
Es ist bekannt, dass die normativen Vorstellungen von sozialer Gerechtigkeit der unteren Schichten erhebliche soziale Ungleichheiten zulassen, die mit unterschiedlichen sozialen Rollen einhergehen. Diese durch soziale Rollen und Status bedingte Ungleichheit innerhalb einer sozialen Gemeinschaft hat jedoch ihre Grenzen. Werden diese Grenzen überschritten, führt dies zu einer irreversiblen Desidentifikation zwischen den „unteren Klassen" und den Eliten („wir" und „sie"), die sich später in Gehorsamsverweigerung, mangelnder Kooperation und in einem bestimmten Stadium sogar in „Rebellion" als aktiver Gewalt der sozialen Peripherie gegen die Eliten manifestiert.
Das Phänomen der „relativen sozialen Deprivation", also der Ausweitung sozialer Ungleichheit über die subjektiven Normen sozialer Gerechtigkeit hinaus, die aktiven Ungehorsam und mangelnde Kooperation mit der Obrigkeit provoziert, wird im klassischen Werk von T. Garr „Why People Rebel" (1970) ausführlich untersucht.Allerdings konzentrierte sich T. Garr auf das Problem der Gewalt („Rebellion") als extreme Form mangelnder Kooperation, während die Zerstörung der Machtgrundlagen meist latent erfolgt und den Eindruck politischer Stabilität und Kontrollierbarkeit der Gesellschaft erweckt, bis zum Moment der politischen Katastrophe, wenn sich die herrschende Elite in eine mechanische Ansammlung von Individuen verwandelt.
Ein weiteres soziales Kennzeichen einer aufziehenden politischen Katastrophe ist das Phänomen der relativen sozialen Deprivation, verstanden als die zunehmende Überzeugung der unteren Gesellschaftsschichten von sozialer Ungerechtigkeit, die über die gesellschaftlich akzeptablen Grenzen der Ungleichheit innerhalb der Gruppe hinausgeht und zum Zerfall der Nation als sozialer Gemeinschaft und des mit der Nation verbundenen politischen Machtsystems führt.
Verschärfung des politischen Regimes und Monopolisierung der Macht
Der Wendepunkt in der Entwicklung der politischen Katastrophe ist der Schritt der herrschenden Elite zur Verschärfung des politischen Regimes, bis hin zur Errichtung einer Diktatur. In vielen Fällen waren es jedoch gerade die Versuche, die Macht durch repressive Maßnahmen zu „konsolidieren", die die Katastrophe auslösten.
Die herrschende Elite reagiert auf die wachsende soziale Krise mit der Verschärfung des politischen Regimes, die bis hin zur Diktatur und zur Ausübung von Staatsterrorismus geht.
Gleichzeitig sind es gerade die Stärkung des Machtmonopols und das „Anziehen der Daumenschrauben", die immer wieder zum Auslöser politischer Katastrophen werden und eine plötzliche Lähmung der gesamten Machtvertikale hervorrufen, einschließlich der Strukturen „legitimer Gewalt", die traditionell als die Grundlage politischer Macht gelten.
Dies zeigt, dass direkte Gewalt an sich, selbst legitime Gewalt, nicht so sehr Macht „schafft", sondern dass sie letztlich Machtinstitutionen und soziale Strukturen zerstört, die vor der Krise bestanden, und ein „institutionelles Vakuum" schafft, in dem - normalerweise in Form von Bürgerkriegen und sozialen Revolutionen - neue soziale Strukturen und neue Machtverhältnisse entstehen.
Bezeichnend ist, dass die Strafaktionen (beispielsweise gegen das Koltschak-Regime in Sibirien), die auf eine Machtergreifung durch Terror abzielten, die lokale Bevölkerung nicht unterwarfen, sondern eine Welle von Partisanenbewegungen auslösten, die von den „Roten", den Gegnern Koltschaks, angeführt wurden.
Zudem garantiert in Zeiten politischer Katastrophen die Existenz eines „legitimen Gewaltapparats", egal wie umfangreich seine Machtbefugnisse auch sein mögen, keine Unterordnung - auch nicht die Unterordnung des „Gewaltapparats" selbst unter die Machtsubjekte, wie es beispielsweise im Februar 1917 im Russischen Reich geschah, als die uneingeschränkte Macht des Monarchen und Oberbefehlshabers mit der Abdankung der herrschenden Dynastie unter dem Druck ungehorsamer Eliten endete. Daraus folgt, dass in diesem Fall die wahren Grundlagen der Macht, die zusammenbrachen, nicht mit dem „Gewaltapparat" zusammenhingen, sondern mit subtileren Mechanismen der Gruppenidentität soziokultureller Natur.
Bezeichnend ist, dass sich die insbesondere strafrechtlich geregelte „legitime Gewalt" der Behörden fast ausschließlich gegen Randgruppen richtet, die für den Kern der Nation als gesellschaftliche Gruppe eher eine äußere Bedrohung darstellen.
Direkte „legitime Gewalt", die sich gegen den Kern der kontrollierten Gruppe richtet, zerstört in der Regel die Identifikation der Gruppe mit den politischen Eliten und zerstört damit unwiderruflich die Grundlagen der Macht.
Der „Blutsonntag" - die Erschießung eines friedlichen Marsches am 9. Januar 1905 - beendete die Unruhen also nicht, sondern untergrub im Gegenteil unwiderruflich die Identifikation der Untertanen mit der Romanow-Dynastie, was nach einhelliger Meinung der Historiker weitgehend den Weg für die historische Katastrophe vom Februar 1917 ebnete. Auf dem Höhepunkt der ersten russischen Revolution kam es im Massenbewusstsein zu einer Umkehrung der Identität, in deren Folge die Identifikation der Untertanen mit der herrschenden Elite (in diesem Fall der Romanow-Monarchie) unwiderruflich zerstört wurde.
Es ist bezeichnend, dass es im vielfältigen politischen Spektrum des Bürgerkriegs und der Intervention keine nennenswerte monarchistische Bewegung gab: Trotz der großen Zahl „ausbeuterischer" Klassen, die die soziale Basis der monarchischen Macht bildeten (Adel, Klerus, Kaufleute, Kosaken), waren die Grundlagen der Macht der absoluten Monarchie unwiderruflich zerfallen: Im nachrevolutionären Russland gab es nicht einmal unter dem Adel eine nennenswerte Schicht von Menschen, die an einer Restauration interessiert waren.
Die Ideologie einer monarchistischen Revanche nahm erst viel später unter Emigranten Gestalt an und fand in Sowjetrussland selbst keine nennenswerte Unterstützung.
Diese Beispiele zeigen, dass die komplexesten systembildenden sozialen Strukturen des modernen Staates nicht durch Gewalt kontrolliert werden, sondern durch ihr Gegenteil - ein System positiver sozialer Anreize, wenn die Beziehung zwischen dem Subjekt der Macht und dem Objekt nicht auf Unterwerfung unter die Gewalt, sondern auf sozialer Kooperation (Zusammenarbeit) beruht, nicht auf „Parasitismus" der Macht, sondern auf einer für beide Seiten vorteilhaften „Symbiose".
Es sollte angemerkt werden, dass die Gewalt der Behörden gegen politische Gegner und die Bevölkerung vor einer politischen Katastrophe deutlich weniger intensiv ist als die Gewalt während der Zeit der staatlichen Wiederherstellung. Die wesentlich intensivere und härtere politische Gewalt während der Wiederherstellung des Staates auf einer neuen gesellschaftlichen Grundlage ereignet sich vor dem Hintergrund einer weit verbreiteten Ermüdung, richtet sich gegen marginale Gruppen, die während des Zusammenbruchs der alten Gesellschaft stark angewachsen sind, und wird als Befreiung von Chaos und Unruhen wahrgenommen. Mit anderen Worten: Im Moment der politischen Katastrophe, die einem Zusammenbruch vorausgeht, reicht die legitime Gewalt der Behörden eindeutig nicht aus, um die Unzufriedenen zu unterdrücken.
Ab einem gewissen Grad der Entfremdung der Eliten von der Bevölkerung führt die Hinwendung der herrschenden Elite zu politischer Diktatur zunächst zu einer psychologischen Distanzierung der untergeordneten Gesellschaftsschichten und anschließend zu einer Umkehrung der Identität der Massen, da diese ihre gemeinsame Identifikation mit den politischen Eliten und den sozialen Strukturen des Staates verlieren (das „Zwei-Nationen"-Phänomen). Dies führt dazu, dass die Massen in Konflikte auf die Seite alternativer Elitegruppen (Gegeneliten) oder externer Kräfte gezogen werden. Letztlich können die Verschärfung des Machtmonopols und repressive Maßnahmen als relativ zuverlässige soziale Indikatoren einer politischen Katastrophe gelten.
Am Vortag
Zu den wichtigsten Indikatoren für die Entstehung einer systemischen politischen Katastrophe zählen Anzeichen dafür, dass sich der Konflikt über die politischen Eliten hinaus ausweitet.
Dies ist zunächst die Beteiligung der kontrollierten Schichten der Gesellschaft, d. h. der breiten Masse der Bevölkerung, an der Konfrontation zwischen Machtgruppen,die in der Regel durch die Verschärfung innerelitärer Widersprüche verursacht wird, die zur Polarisierung der Gesellschaft und zur Verallgemeinerung sozialer Konflikte führen.
Sobald die Beteiligung der unteren Schichten am politischen Prozess einmal begonnen hat, gerät sie außer Kontrolle der Elitegruppen, die sie initiiert haben. Dies löst den überfälligen Prozess eines steilen Zusammenbruchs und einer Fragmentierung der Gesellschaft aus. Das häufigste Anzeichen einer politischen Katastrophe ist daher die Ausweitung der politischen Krise über die herrschenden Eliten hinaus auf die gesellschaftliche Peripherie, die Bevölkerung.
Der zweite Indikator einer nahenden politischen Katastrophe ist die zunehmende Einmischung ausländischer politischer Kräfte und Ressourcen in eine innenpolitische Krise, die irgendwann die Initiative ergreifen und der Kontrolle der jeweiligen Elitegruppen entgleiten. Der kritische Moment ist der Übergang der Führung von einer inländischen politischen Gruppe, die externe Kräfte einbezieht (auf ausländische Staaten ausgerichtete Parteien hat es schon immer gegeben), zu externen Kräften, die ihre Interessen mithilfe der inländischen politischen Gruppe verwirklichen.
Koltschak und Denikin, die nominell das weiße Lager anführten, waren von Anfang an de facto völlig von den Entente-Staaten abhängig, und das nicht nur wirtschaftlich und militärisch, sondern auch politisch. Voraussetzung für die Anerkennung Koltschaks als „Oberster Regent" war die Unterzeichnung eines Abkommens zur Abspaltung der Ukraine, des Baltikums, Transkaukasiens und Zentralasiens vom „Einen und Unteilbaren Reich". Die Zahl der von 1918 bis 1921 am Bürgerkrieg beteiligten ausländischen Truppen entsprach in etwa der Mannzahl der weißen Streitkräfte.
Der Übergang eines internen Konflikts in die „heiße" Phase eines Bürgerkriegs ist üblicherweise mit der Übertragung der politischen Initiative auf externe Kräfte und dem Beginn einer Intervention verbunden, die zur Etablierung einer externen Kontrolle über die betreffende Elitegruppe und zum Eintritt des Konflikts selbst in die „heiße" Phase führt. Die Phase des Untergangs der Romanow-Dynastie verlief vergleichsweise friedlich, wobei der Beginn heftiger Feindseligkeiten unmittelbar mit dem Beginn der Intervention zusammenhing. Tatsächlich verging zwischen dem Februar 1917 und dem Ausbruch des Bürgerkriegs ein ganzes Jahr.
Auch während des endgültigen Zusammenbruchs des Byzantinischen Reiches riefen die Hofparteien verschiedene externe Mächte um Hilfe: die Lateiner, die Bulgaren, die Türken usw.
Während der Französischen Revolution bauten einige Eliten offen auf ausländische Strukturen und Kräfte, vor allem auf Preußen und Großbritannien.
Nach dem Zusammenbruch des Russischen Reiches stützten sich einige Kräfte auf die Entente-Staaten, vor allem auf England und Frankreich (Denikin, Koltschak, Judenitsch usw.). Andere, wie Ataman Krasnow und das ukrainische Direktorium, stützten sich auf die Deutschen. Der Ferne Osten wurde zum Ziel von Interventionen nicht nur der Entente, sondern auch der Japaner und Amerikaner.
Das heißt, der Rückhalt eines Teils der Eliten, insbesondere der regionalen, bei ausländischen Mächten - nicht allein bei militärischen, sondern vor allem bei wirtschaftlichen und organisatorischen - ist offensichtlich.
Der Zusammenbruch der UdSSR war auch durch die Unterstützung externer Mächte auf Bundes- und Regionalebene gekennzeichnet. Die USA und Europa waren maßgeblich am Prozess der Demontage des sowjetischen Systems beteiligt, obwohl die zunehmende Einmischung Chinas, der muslimischen Welt und einer Reihe anderer externer Akteure in die postsowjetische Politik nicht außer Acht gelassen werden kann.
Ein weiterer Vorbote einer drohenden politischen Katastrophe ist die herrschende Elite, die spürt, dass ihre Machtposition schwindet, und deshalb Gewalt und Terror gegen den Kern der regierten Gemeinschaft einsetzt. Dieses Streben nach zunehmender politischer Kontrolle über die Gesellschaft durch Gewalt, auch formal legitime Gewalt, führt zu einer Spaltung innerhalb der Elite, einer zunehmenden Entfremdung (De-Identifikation) der unteren Klassen von der Elite und in der Folge zur Zerstörung der Machtgrundlagen und zur politischen Katastrophe.
Krise oder Katastrophe?
Der Hauptunterschied zwischen politischen Krisen und politischen Katastrophen besteht in der Zerstörung der sozialen Machtgrundlagen, die durch die Ausweitung der politischen Konfrontation über die Eliten hinaus und die Verallgemeinerung innerelitärer Konflikte verursacht wird.
Gewöhnliche politische Krisen werden auf Ebene der Eliten durch Personalumbildungen und diverse demokratische Verfahren, oder im Extremfall durch einen „Elite"-Putsch gelöst, die die unteren Gesellschaftsschichten und damit die Grundlagen der politischen Macht nicht berühren. Im Kampf um die Macht haben Elitegruppen kein Interesse daran, das Machtsystem selbst als Gegenstand und Ziel des politischen Kampfes zu zerstören. Dementsprechend sind sie auch nicht an einem politischen Kampf interessiert, der über die Elite hinausgeht und zur Delegitimierung der Macht und damit zur Untergrabung ihrer Grundlagen führt. Im Kontext innerelitärer politischer Konflikte ist das Machtsystem, einschließlich seiner gesellschaftlichen Grundlagen, das primäre Ziel, das Kampfobjekt, die Zielressource, deren Zerstörung nicht zu den Zielen der Beteiligten gehört. Ein typisches Beispiel hierfür ist die Zeit der Wirren, als sich unter dem Namen Zarewitsch Dmitri Iwanowitsch Anwärter auf den Moskauer Thron inszenierten: Die Betrüger versuchten, den Thron von ihren Rivalen zu befreien und ihn zu erobern, nicht ihn zu zerstören.
Die absichtliche oder unabsichtliche Zerstörung der Machtgrundlagen stellt die Führung der siegreichen Verschwörung vor die Aufgabe, das gesamte Machtsystem, die Ideologie und im Wesentlichen die gesamte gesellschaftliche Struktur der Gesellschaft von Grund auf neu aufzubauen, was eindeutig über die Möglichkeiten einer eng umrissenen Elitegruppe hinausgeht.
Die Folge ist, dass die siegreichen Verschwörer, nachdem sie die Macht „in den Dreck geworfen" haben, oft nicht in der Lage sind, sie wieder „aufzurichten". Mit der Folge, dass Revolutionen (anders als gewöhnliche Staatsstreiche) im Verlauf langer und mehrstufiger Wirren nach politischen Katastrophen „ihre Kinder verschlingen", in deren Verlauf nicht nur die Machtinstitutionen, sondern auch das gesamte System gesellschaftlicher Rollen und Status zerstört werden.
So begann die Große Französische Revolution damit, dass die Gegeneliten das Volk für sich gewannen, indem sie die Bastille als offensichtliches Symbol der Macht kampflos besetzten und zerstörten, woraufhin das politische System und die soziale Struktur der Gesellschaft unwiderruflich zusammenbrachen.
Auf den Sturm auf die Bastille folgten zehn Jahre voller Unruhen, Hinrichtungen, Terror und Wechsel politischer Regime, in denen die soziale Struktur der Gesellschaft neu aufgebaut wurde. Diese Periode endete mit dem Putsch des 18. Brumaire, der Napoleon an die Macht brachte. Ihm gelang es schließlich, eine neue politische Elite zu konsolidieren und die neue soziale Struktur zu stabilisieren.
Der Zusammenbruch des Russischen Reiches folgte ähnlichen Mechanismen. Nach der politischen Katastrophe der russischen Monarchie und der Entmachtung Nikolaus II. begannen Gruppen der zentralen und regionalen Eliten, ihre eigenen Staatsbildungsprojekte umzusetzen und die Bevölkerung als ihre wichtigste politische Ressource in den Kampf einzubeziehen. Infolgedessen entstanden auf dem Gebiet des ehemaligen Russischen Reiches zahlreiche Quasi-Staaten, wie die Ukrainische Volksrepublik (UPR), die baltischen „Limitrophen", die Weißrussische Volksrepublik (BNR), das Große Don-Heer und andere.
Während des Zusammenbruchs der UdSSR entstand ein ähnlicher Konfrontationsmechanismus zwischen zentralen und regionalen Eliten. So sicherten sich die Eliten der Unionsrepubliken die Unterstützung der Bevölkerung in ihrem Kampf gegen das Unionszentrum (Moskau). Gleichzeitig gewannen innerhalb Russlands politische Kräfte, die sich gegen die Kommunistische Partei der Sowjetunion stellten, ebenfalls die Unterstützung der Massen. Dies gipfelte in der Zerstörung des Staates und dem Aufbau neuer Staaten auf neuer Grundlage innerhalb der UdSSR.
Der Ausgang der Unruhen, einer Situation der Anarchie oder Polyarchie nach einer politischen Katastrophe, hängt von der Fähigkeit der Kriegsparteien ab, die Bevölkerung in eine neue politische Gemeinschaft zu integrieren, indem sie eine attraktive Alternative zum „alten Regime" anbieten. Die „Roten", d. h. die Bolschewiki und ihre politischen Verbündeten, gewannen den Bürgerkrieg, weil sie sich auf interne Ressourcen stützten und eine soziale Perspektive fanden, die die Gesellschaft konsolidierte.
Schlussfolgerungen
Wie die historische Erfahrung zeigt, ist der Schlüsselmechanismus soziohistorischer Katastrophen die Zerstörung der sozialen Machtgrundlagen, d. h. der Bereitschaft der Gesellschaft, sich den herrschenden Eliten zu unterwerfen und mit ihnen zusammenzuarbeiten, die auf einer gemeinsamen Gruppenidentität beruht, etwa der Zugehörigkeit der herrschenden Eliten und der regierten Schichten der Gesellschaft zu einer sozialen Gemeinschaft (Nation).
Wenn sich eine Reihe von Prozessen überschneiden und aus verschiedenen Gründen zur Fragmentierung der Gesellschaft beitragen, kommt es zu einer Erosion der sozialen Identität und einer Verringerung der Bedeutung der nationalstaatlichen Identität. In manchen Fällen kommt es sogar zu einer lawinenartigen Umkehrung der Identität untergeordneter Schichten, wodurch die Unterwerfung unter die Autoritäten ihren instrumentellen und moralischen Wert für die Massen verliert.
Ein günstiger Hintergrund für die Erosion der nationalen (nationalstaatlichen) Identität und damit der Machtgrundlagen ist die Situation einer Krise der vertikalen Mobilität, die mit der Erschöpfung des Wachstumspotenzials der Gesellschaft und dem Heranreifen einer Krise der Wachstumsgrenzen einhergeht.
Die zweite Erscheinungsform der Krise der Wachstumsgrenzen, wenn die vorangegangene Entwicklungsphase ausgeschöpft ist, ist eine Krise der Zielsetzung. Sie spiegelt objektiv wider, dass die Gesellschaft vor einer Entscheidung (κρίσις - altgriechisch „Entscheidung") hinsichtlich ihres zukünftigen Entwicklungsweges steht. Eine Krise der Zielsetzung führt zu einer Fragmentierung der politischen Eliten auf der Grundlage der gesellschaftlichen Entwicklungsziele, also zu einer Krise der nationalen Ideale und der Staatsideologie.
Soziale Marker für die Entwicklung der horizontalen Fragmentierung der Gesellschaft sind die Fragmentierung und Zersplitterung eines einheitlichen Kulturraums, die Entstehung von modernistischen Subkulturen und Strömungen in Kunst und im gesellschaftlichen Leben, die anerkannte kulturelle Standards sowie sich gegenseitig ablehnen.
Die vertikale Fragmentierung der Identität ist mit der Entstehung einer Kluft zwischen der Mentalität und dem Lebensstil der Eliten und der Massen verbunden, wodurch eine Situation „zweier Nationen" entsteht. Der Hauptfaktor für die Desidentifikation der Gesellschaft und der herrschenden Eliten ist weniger der Reichtum als vielmehr soziokulturelle Unterschiede zwischen den sozialen Schichten.
Die Krise der nationalen und staatlichen Identität führt zur Aktualisierung ethnischer und religiöser Identitäten, d. h. zur Fragmentierung der Gesellschaft und der Eliten in ethnische und religiöse Gruppen, die schrittweise politische Handlungsfähigkeit erlangen (Politisierung ethnischer und religiöser Gruppen). Ein Szenario politischer Katastrophen (von der Antike bis zum modernen Syrien) ist die ethnoreligiöse Fragmentierung von Eliten und Gesellschaft bis hin zur Zerstörung der Machtgrundlagen.
Ein direkter Indikator für das Heranreifen der politischen Katastrophe eines Staates ist demnach die Aktualisierung ethnischer und religiöser Zugehörigkeit, die unmittelbar mit der Fragmentierung der national-bürgerlichen Identität als gesellschaftlicher Grundlage politischer Macht verbunden ist.
Der wichtigste Indikator für das Herannahen einer politischen Katastrophe und die Polarisierung der Elitengruppen ist eine Ausbreitung der Widersprüche über die Eliten hinaus und die Einbeziehung untergeordneter Gesellschaftsschichten und externer politischer Kräfte in die Konfrontation zwischen den Eliten, was zu einer Verallgemeinerung der sozialen Konflikte bis hin zur Zerstörung der Machtgrundlagen führt.
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Fußnoten
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Rasnotschinzen (разночинцы), nicht adlige Intellektuelle im Russland des 19. Jh - Verm. d. Ü. ↩